Reinkarnationserinnerung - 13 Hexen

M3.

Angst macht klug

Seit ich zu ihr gezogen war, hatte die alte Hexe mir alles gelehrt, was sie über Kräuter wußte. Geduldig lehrte sie mir die richtigen Zeiten, um sie zu sammeln, daß frische Kräuter besser wirken als getrocknete und vieles mehr. Oft gingen wir gemeinsam Nachts in den Wald, weil manche Kräuter tags schlafen und deshalb nur im Dunklen geerntet werden dürfen. Bei den meisten ist es jedoch umgekehrt. Als ich elf war, schickte sie mich schon oft allein in den Wald, wenn sie etwas für ihre Arbeit brauchte.

Eines Tages spürte ich bei einem solchen Auftrag, daß Unruhe im Wald herrschte. Ich fühlte in mich hinein, und machte mich auf, die Quelle der Unruhe zu suchen. Barfuß wie ich war, bewegte ich mich sehr leise und hielt mich nahezu unsichtbar im Schatten der Bäume.

Bei einer kleinen Quelle kniete ein Mädchen, das vielleicht dreizehn oder vierzehn sein mochte und pflückte Kräuter. Sie hatte eine sehr klare und liebe Ausstrahlung. Leise trat ich ins Freie und sah sie an. Sie erschrak.
"Wo kommst du denn plötzlich her?"
"Weißt du, ich mache dasselbe wie du: Ich sammle Kräuter. Ich hatte dich gehört und da nicht alle Menschen so nett sind wie du, habe ich mich erst vorsichtig angeschlichen und dich beobachtet, bis ich mir sicher war, daß du mir nichts tun wirst." antwortete ich.
"Aber wie konntest du mich hören? Ich war doch ganz leise."
"Ich höre manchmal Dinge, die kein anderer hört." antwortete ich, dann betrachtete ich ihre Arbeit und sagte ernst: "Du solltest nicht so viele Kräuter an einer Stelle pflücken. Wenn du nichts übrigläßt, wachsen sie nicht mehr nach."
"Aber ich kenne nicht viele Stellen mit diesen Kräutern und wir haben jetzt so viele Kranke im Kloster."
"In unserem Dorf sind jetzt auch sehr viele krank. Komm mit, ich zeige dir andere Kräuterplätze." sagte ich.
Ich führte sie kreuz und quer durch den Wald, und wir sammelten gemeinsam die Kräuter, die wir brauchten. Schließlich, als wir erfreut feststellten, daß wir genug hatten, sah sie erschrocken hoch und meinte, es sei ja schon fast dunkel. Ich fand das nicht. Die Sonne begann gerade erst unterzugehen. Da sie solche Angst hatte, bot ich ihr an, sie nach Hause zu begleiten und fragte:
"Wo ist euer Kloster denn?"
Zu meinem Erstaunen brach sie in Tränen aus und sagte, daß sie überhaupt nicht mehr wußte, wo wir sind.
"Aber von der Stelle, wo wir uns getroffen hatten, würdest du es doch finden, oder?" fragte ich.
"Ja" antwortete sie.
"Gut, dann gehen wir dort hin." sagte ich und führte sie dreihundert Meter durch den Wald.
"Oh, das war ja gar nicht weit!" staunte sie.
"Nein. Und wo müssen wir jetzt lang?" fragte ich.
"Ich weiß nicht, es sieht alles so anders aus!" meinte sie verunsichert.
"Wie sah denn der Weg aus, den du gehen mußtest?"
Aufmerksam hörte ich ihrer umständlichen Beschreibung zu, zeigte dann auf eine Stelle, die zu ihrer Beschreibung paßte und fragte, ob es nicht vielleicht da lang ginge.
"Ja richtig, ich weiß gar nicht, warum ich das nicht erkannt hatte."
Der Weg zum Kloster war anstrengend. Nicht nur, daß das ältere Mädchen mir mit seiner Angst auf den Geist ging. Ich mußte sie auch noch geduldig überreden, mir eine verständliche Beschreibung des Rückweges zu liefern, den sie nur nicht erkannte, weil sie zu hysterisch war, um richtig hinzuschauen.

Nach fünf Minuten als die Lichter des Klosters zu sehen waren, fühlte ich mich so erschöpft, als hätte ich einen ganzen Tag gewandert. Ich wollte unauffällig wieder im Wald verschwinden, denn inzwischen hatte ich oft genug gehört, daß Bekannte meiner Lehrerinnen verbrannt worden waren, um nicht unnötig viel mit Angehörigen der Kirche in Kontakt kommen zu wollen. Doch das Mädchen hielt mich fest und sagte ich könne doch nicht mitten in der Nacht nach Hause laufen.

Bevor es mir gelungen war, sie zu überzeugen, daß ich das sehr wohl konnte, hatte eine junge Nonne die Tür geöffnet und meinte:
"Bleib wenigstens zum Essen, Kind. Du hast doch bestimmt Hunger."
Selbstverständlich hatte ich Hunger! Ich habe immer Hunger. Mein Mittagessen hatte nur aus rohen Wildpflanzen bestanden. Aber es wäre mir wirklich lieber gewesen, sie hätte mich nicht gesehen. Jetzt wäre es aber unhöflich wegzurennen, wie ich es am liebsten gemacht hätte. Außerdem hätte es sie auf den richtigen Gedanken gebracht. Wer als eine Hexe hat Angst vor Nonnen? Eisern riß ich mich zusammen und bemühte mich, wie ein ganz normales Bauernmädchen zu wirken. Ich folgte ihr in den Speisesaal, sah mich neugierig um und aß mit Heißhunger. Ich sagte wenig, denn ich mußte aufpassen, mich nicht zu verplappern. Das Mädchen - sie wurde von den anderen mit Kerta angeredet, plapperte dagegen pausenlos:
"Zuerst dachte ich, sie wäre eine Hexe, aber dann war sie doch nett. Ohne sie hätte ich bestimmt nie genug Kräuter gefunden, und mich im Wald verirrt."
Als ich das Wort Hexe hörte, hätte ich mich beinahe verschluckt. Wenn sie wüßte, wie nah sie der Wahrheit gekommen war! Eisern zwang ich mich, ruhig weiterzuessen. Ich spürte, wie der Blick einer älteren Frau nachdenklich auf mir ruhte. Eisern hielt ich meine Gedanken im Zaum und richtete sie aufs Essen. Ich zwang mich zuzuhören, ohne über das Gehörte nachzudenken. Wenn mir jemand erzählt hätte, was diese naive Novizin da vor sich hinplapperte, hätte ich sofort gewußt, woran ich war.

Als wir fertig waren, sagte die ältere, nachdenkliche Frau zu mir und dem Mädchen:
"Kommt, Kinder. Ich möchte mich gerne in Ruhe mit euch unterhalten."
Ich nickte und folgte ihr ruhig, obwohl mir eher nach weglaufen zumute war. Dazu war es zu spät. Darin sind Menschen wie Raubtiere: Wenn man sicher außerhalb ihrer Reichweite gelangen will, sollte man nicht rennen. Sie laufen sonst mit Sicherheit hinterher. Die meisten jedenfalls. Die alte Frau strahlte tiefe Nachdenklichkeit aus. Ihr Gesicht war von vielen freundlichen Lachfältchen durchzogen. Sie war bestimmt sehr angesehen und beliebt im Kloster. Aber stand sie auch über den Märchen, die manche Frauen einander über uns Hexen erzählen? Ich konnte mir nicht sicher sein.
"Na, wo wohnst du denn?"
Ich nannte den Namen unseres Dorfes.
Sie nickte, es bestätigte eine ihrer Vermutungen, wie ich spüren konnte. Nur welche? Sie plauderte eine Weile oberflächliches Zeug und fragte dann:
"Gehst du gerne zur Kirche?"
Erleichtert erzählte ich von unserem Pfarrer. Das mußte sie einfach von ihrer Vermutung abbringen. Doch sie wurde nur noch nachdenklicher.
"Wie geht es dir denn so zuhause?"
"Oh, gut." Ich fing an von der Ziege zu erzählen, die die Hexe mir geschenkt hatte, als sie noch ein kleines Zicklein war. Das war ein unverfängliches Thema.
"Und deine Mutter, was macht die so?"
Ich starrte die Äbtissin für einen Augenblick nur schmerzerfüllt an. Sie hatte meinen wundesten Punkt getroffen.
"Ich weiß nicht. Sie redet nicht mit mir." antwortete ich unüberlegt.
Als die Äbtissin wieder nickte, als hätte das eine ihrer Vermutungen bestätigt, hätte ich mir am liebsten die Zunge abgebissen.
"So jung und schon in einem Dienstverhältnis?" fragte die Äbtissin mitfühlend.
Ich schwieg, denn ich wollte weder lügen, noch ihr die Wahrheit verraten. Die Äbtissin nickte wieder. Dann faßte sie einen Beschluß.
"Kannst du lesen?" fragte sie.
"Nein." antwortete ich.
"Wenn du willst, könnte ich es dir beibringen."
Vermutete sie es nur, oder war sie sich sicher? Ich mußte bescheidwissen. Also sagte ich:
"Weißt du, ich mag dich. Du erinnerst mich sehr an die Frau, bei der ich jetzt lebe."
Die Äbtissin stutzte und mußte sich sehr beherrschen, um nicht lauthals loszulachen. Ich mußte mich sehr beherrschen, um nicht ebenso zu nicken, wie sie es immer tat. Sie war sich also sicher. Und sie dachte immer noch gut von mir.
"Ja, ich möchte gerne von dir lesen lernen." sagte ich.

"Du kannst bei uns schlafen. Es ist schon spät geworden."
"Nein. Die Kräuter, die ich gesammelt habe, werden gebraucht. Wir haben sehr viele Kranke bei uns im Dorf. Ich gehe jetzt zurück."
Die Äbtissin nickte. Sie schien das erwartet zu haben.
"Mitten in der Nacht?" fragte Kerta entsetzt.
Ich mußte lachen:
"Ja, mitten in der Nacht. Hab keine Angst. Du mußt ja nicht gehen und nachts ist der Wald auch nicht gefährlicher als Tags."
"Aber wirst du dich nicht verlaufen?"
"Nein. Ich gehe öfters nachts durch den Wald. Ich kenne mich aus."

An der Klosterpforte blieb ich nachdenklich stehen. Ich wollte der Äbtissin gerne sagten, daß ich wußte, daß sie bescheidwußte.
"Hast du denn keine Angst?" fragte mich die Äbtissin unvermittelt.
"Nein. Dir kann ich vertrauen. Aber erzählst du den Leuten auch wirklich keine komischen Dinge über mich?"
Die Augen der Äbtissin wurden groß. Sie hatte den versteckten Hinweis verstanden.
"Du bist sehr klug, sehr mutig und hast eine große Selbstbeherrschung. Ich wünschte ich hätte solche Novizinnen."
"Weißt du, manche Leute werden durch Angst blind, andere klug." entgegnete ich lachend.
Die Äbtissin schmunzelte.

"Ich verstehe gar nicht warum ihr plötzlich alle so komisch redet!" rief die Novizin.
"Tut mir leid, aber ich glaube, jetzt ist nicht die Zeit, dir das zu erklären." entgegnete ich.
Ich fand, sie hatte für diesen Tag genug Angst gehabt. Die Äbtissin nickte zustimmend.
Dann lief ich heim. Ich genoß den Frieden der Nacht und bewunderte die Schönheit des Waldes im Mondschein. Unter den starken Äste der lieben Bäume fühlte ich mich geborgen. Wie konnte man vor so etwas Schönem Angst haben?

Kersti


M4. Kersti: Fortsetzung: Liebe deine Feinde...
M2. Kersti: Vorheriges: Kirchgang
MI. Kersti: Inhaltsübersicht: 13 Hexen
M1. Kersti: Zum Anfang: Krankheit
V4. Kersti: Merkwürdige Erfahrungen
EGI. Kersti: Kurzgeschichten
V231. Kersti: Frühere Leben von mir
Z51. Kersti: Erinnerungen an frühere Leben
V12. Kersti: Hauptfehlerquellen bei Erinnerungen an frühere Leben
Sonstiges
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