Eines Tages spürte ich bei einem solchen Auftrag, daß Unruhe im Wald herrschte. Ich fühlte in mich hinein, und machte mich auf, die Quelle der Unruhe zu suchen. Barfuß wie ich war, bewegte ich mich sehr leise und hielt mich nahezu unsichtbar im Schatten der Bäume.
Bei einer kleinen Quelle kniete ein Mädchen, das vielleicht dreizehn
oder vierzehn sein mochte und pflückte Kräuter. Sie hatte eine
sehr klare und liebe Ausstrahlung. Leise trat ich ins Freie und sah sie an.
Sie erschrak.
"Wo kommst du denn plötzlich her?"
"Weißt du, ich mache dasselbe wie du: Ich sammle Kräuter. Ich
hatte dich gehört und da nicht alle Menschen so nett sind wie du,
habe ich mich erst vorsichtig angeschlichen und dich beobachtet, bis ich
mir sicher war, daß du mir nichts tun wirst." antwortete ich.
"Aber wie konntest du mich hören? Ich war doch ganz leise."
"Ich höre manchmal Dinge, die kein anderer hört." antwortete ich,
dann betrachtete ich ihre Arbeit und sagte ernst: "Du solltest nicht so
viele Kräuter an einer Stelle pflücken. Wenn du nichts
übrigläßt, wachsen sie nicht mehr nach."
"Aber ich kenne nicht viele Stellen mit diesen Kräutern und wir haben
jetzt so viele Kranke im Kloster."
"In unserem Dorf sind jetzt auch sehr viele krank. Komm mit, ich zeige dir
andere Kräuterplätze." sagte ich.
Ich führte sie kreuz und quer durch den Wald, und wir sammelten
gemeinsam die Kräuter, die wir brauchten. Schließlich, als wir
erfreut feststellten, daß wir genug hatten, sah sie erschrocken hoch
und meinte, es sei ja schon fast dunkel. Ich fand das nicht. Die Sonne
begann gerade erst unterzugehen. Da sie solche Angst hatte, bot ich ihr an,
sie nach Hause zu begleiten und fragte:
"Wo ist euer Kloster denn?"
Zu meinem Erstaunen brach sie in Tränen aus und sagte, daß sie
überhaupt nicht mehr wußte, wo wir sind.
"Aber von der Stelle, wo wir uns getroffen hatten, würdest du es doch
finden, oder?" fragte ich.
"Ja" antwortete sie.
"Gut, dann gehen wir dort hin." sagte ich und führte sie dreihundert
Meter durch den Wald.
"Oh, das war ja gar nicht weit!" staunte sie.
"Nein. Und wo müssen wir jetzt lang?" fragte ich.
"Ich weiß nicht, es sieht alles so anders aus!" meinte sie
verunsichert.
"Wie sah denn der Weg aus, den du gehen mußtest?"
Aufmerksam hörte ich ihrer umständlichen Beschreibung zu, zeigte
dann auf eine Stelle, die zu ihrer Beschreibung paßte und fragte, ob
es nicht vielleicht da lang ginge.
"Ja richtig, ich weiß gar nicht, warum ich das nicht erkannt
hatte."
Der Weg zum Kloster war anstrengend. Nicht nur, daß das ältere
Mädchen mir mit seiner Angst auf den Geist ging. Ich mußte sie
auch noch geduldig überreden, mir eine verständliche Beschreibung
des Rückweges zu liefern, den sie nur nicht erkannte, weil sie zu
hysterisch war, um richtig hinzuschauen.
Nach fünf Minuten als die Lichter des Klosters zu sehen waren, fühlte ich mich so erschöpft, als hätte ich einen ganzen Tag gewandert. Ich wollte unauffällig wieder im Wald verschwinden, denn inzwischen hatte ich oft genug gehört, daß Bekannte meiner Lehrerinnen verbrannt worden waren, um nicht unnötig viel mit Angehörigen der Kirche in Kontakt kommen zu wollen. Doch das Mädchen hielt mich fest und sagte ich könne doch nicht mitten in der Nacht nach Hause laufen.
Bevor es mir gelungen war, sie zu überzeugen, daß ich das sehr
wohl konnte, hatte eine junge Nonne die Tür geöffnet und meinte:
"Bleib wenigstens zum Essen, Kind. Du hast doch bestimmt Hunger."
Selbstverständlich hatte ich Hunger! Ich habe immer Hunger. Mein
Mittagessen hatte nur aus rohen Wildpflanzen bestanden. Aber es wäre
mir wirklich lieber gewesen, sie hätte mich nicht gesehen. Jetzt
wäre es aber unhöflich wegzurennen, wie ich es am liebsten
gemacht hätte. Außerdem hätte es sie auf den richtigen
Gedanken gebracht. Wer als eine Hexe hat Angst vor Nonnen? Eisern riß
ich mich zusammen und bemühte mich, wie ein ganz normales
Bauernmädchen zu wirken. Ich folgte ihr in den Speisesaal, sah mich
neugierig um und aß mit Heißhunger. Ich sagte wenig, denn ich
mußte aufpassen, mich nicht zu verplappern. Das Mädchen - sie
wurde von den anderen mit Kerta angeredet, plapperte dagegen pausenlos:
"Zuerst dachte ich, sie wäre eine Hexe, aber dann war sie doch nett.
Ohne sie hätte ich bestimmt nie genug Kräuter gefunden, und mich
im Wald verirrt."
Als ich das Wort Hexe hörte, hätte ich mich beinahe verschluckt.
Wenn sie wüßte, wie nah sie der Wahrheit gekommen war! Eisern
zwang ich mich, ruhig weiterzuessen. Ich spürte, wie der Blick einer
älteren Frau nachdenklich auf mir ruhte. Eisern hielt ich meine
Gedanken im Zaum und richtete sie aufs Essen. Ich zwang mich
zuzuhören, ohne über das Gehörte nachzudenken. Wenn mir
jemand erzählt hätte, was diese naive Novizin da vor sich
hinplapperte, hätte ich sofort gewußt, woran ich war.
Als wir fertig waren, sagte die ältere, nachdenkliche Frau zu mir und
dem Mädchen:
"Kommt, Kinder. Ich möchte mich gerne in Ruhe mit euch unterhalten."
Ich nickte und folgte ihr ruhig, obwohl mir eher nach weglaufen zumute war.
Dazu war es zu spät. Darin sind Menschen wie Raubtiere: Wenn man
sicher außerhalb ihrer Reichweite gelangen will, sollte man nicht
rennen. Sie laufen sonst mit Sicherheit hinterher. Die meisten jedenfalls.
Die alte Frau strahlte tiefe Nachdenklichkeit aus. Ihr Gesicht war von
vielen freundlichen Lachfältchen durchzogen. Sie war bestimmt
sehr angesehen und beliebt im Kloster. Aber stand sie auch über den
Märchen, die manche Frauen einander über uns Hexen erzählen?
Ich konnte mir nicht sicher sein.
"Na, wo wohnst du denn?"
Ich nannte den Namen unseres Dorfes.
Sie nickte, es bestätigte eine ihrer Vermutungen, wie ich spüren
konnte. Nur welche? Sie plauderte eine Weile oberflächliches Zeug und
fragte dann:
"Gehst du gerne zur Kirche?"
Erleichtert erzählte ich von unserem Pfarrer. Das mußte sie
einfach von ihrer Vermutung abbringen. Doch sie wurde nur noch
nachdenklicher.
"Wie geht es dir denn so zuhause?"
"Oh, gut." Ich fing an von der Ziege zu erzählen, die die Hexe mir
geschenkt hatte, als sie noch ein kleines Zicklein war. Das war ein
unverfängliches Thema.
"Und deine Mutter, was macht die so?"
Ich starrte die Äbtissin für einen Augenblick nur
schmerzerfüllt an. Sie hatte meinen wundesten Punkt getroffen.
"Ich weiß nicht. Sie redet nicht mit mir." antwortete ich
unüberlegt.
Als die Äbtissin wieder nickte, als hätte das eine ihrer
Vermutungen bestätigt, hätte ich mir am liebsten die Zunge
abgebissen.
"So jung und schon in einem Dienstverhältnis?" fragte die
Äbtissin mitfühlend.
Ich schwieg, denn ich wollte weder lügen, noch ihr die Wahrheit
verraten. Die Äbtissin nickte wieder. Dann faßte sie einen
Beschluß.
"Kannst du lesen?" fragte sie.
"Nein." antwortete ich.
"Wenn du willst, könnte ich es dir beibringen."
Vermutete sie es nur, oder war sie sich sicher? Ich mußte
bescheidwissen. Also sagte ich:
"Weißt du, ich mag dich. Du erinnerst mich sehr an die Frau, bei der
ich jetzt lebe."
Die Äbtissin stutzte und mußte sich sehr beherrschen, um nicht
lauthals loszulachen. Ich mußte mich sehr beherrschen, um nicht
ebenso zu nicken, wie sie es immer tat. Sie war sich also sicher. Und sie
dachte immer noch gut von mir.
"Ja, ich möchte gerne von dir lesen lernen." sagte ich.
"Du kannst bei uns schlafen. Es ist schon spät geworden."
"Nein. Die Kräuter, die ich gesammelt habe, werden gebraucht. Wir
haben sehr viele Kranke bei uns im Dorf. Ich gehe jetzt zurück."
Die Äbtissin nickte. Sie schien das erwartet zu haben.
"Mitten in der Nacht?" fragte Kerta entsetzt.
Ich mußte lachen:
"Ja, mitten in der Nacht. Hab keine Angst. Du mußt ja nicht gehen und
nachts ist der Wald auch nicht gefährlicher als Tags."
"Aber wirst du dich nicht verlaufen?"
"Nein. Ich gehe öfters nachts durch den Wald. Ich kenne mich aus."
An der Klosterpforte blieb ich nachdenklich stehen. Ich wollte der
Äbtissin gerne sagten, daß ich wußte, daß sie
bescheidwußte.
"Hast du denn keine Angst?" fragte mich die Äbtissin unvermittelt.
"Nein. Dir kann ich vertrauen. Aber erzählst du den Leuten auch
wirklich keine komischen Dinge über mich?"
Die Augen der Äbtissin wurden groß. Sie hatte den versteckten
Hinweis verstanden.
"Du bist sehr klug, sehr mutig und hast eine große Selbstbeherrschung.
Ich wünschte ich hätte solche Novizinnen."
"Weißt du, manche Leute werden durch Angst blind, andere klug."
entgegnete ich lachend.
Die Äbtissin schmunzelte.
"Ich verstehe gar nicht warum ihr plötzlich alle so komisch redet!"
rief die Novizin.
"Tut mir leid, aber ich glaube, jetzt ist nicht die Zeit, dir das zu
erklären." entgegnete ich.
Ich fand, sie hatte für diesen Tag genug Angst gehabt. Die
Äbtissin nickte zustimmend.
Dann lief ich heim. Ich genoß den Frieden der Nacht und bewunderte die
Schönheit des Waldes im Mondschein. Unter den starken Äste der
lieben Bäume fühlte ich mich geborgen. Wie konnte man vor so
etwas Schönem Angst haben?
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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