Eines Tages - ich war 16 - war ein großes Treffen aller Hexen der
Gegend. Das Hauptgesprächsthema dort waren die Ernten, die in der
letzten Zeit jedes Jahr schlechter geworden waren.
"Die Menschen verhungern. Wir müssen etwas unternehmen."
"In alten Zeiten hätte man schon längst ein Opfer gebracht."
"Ein Tier wird nicht reichen. Noch eine so schlechte Ernte darf es einfach
nicht geben."
Ich konnte nicht fassen, was ich hörte. Ich hatte geglaubt,
Menschenopfer gehörten zu den Dingen, die es nicht mehr gäbe.
Wie betäubt sah ich zu, wie die Männer nacheinander jeder ihren Namen auf eine Scheibe schrieben sie in einen Korb taten und am Schluß eine leere Scheibe hinzugetan wurde. Die Scheiben wurden gemischt und der, der die leere Scheibe erhielt, war das Opfer. Nach der Auslosung gab keiner der Männer zu, die leere Scheibe erhalten zu haben. Ich glaube nicht, daß wirklich die leere Scheibe übriggeblieben war. Vermutlich hatte der Ausgeloste einfach nicht den Mut, sich opfern zu lassen. Die Herrin ließ die Scheiben kommentarlos wieder einsammeln und wiederholte die Auslosung. Gaivin, mein Geliebter wurde starr, als er seine Scheibe ansah.
"Wer hat die leere Scheibe?"
Er trat vor und sagte:
"Ich."
"Gut. Dann ist es an dir, die Priesterin zu wählen, die das Opfer
vollbringen soll."
Er kam zu mir.
"Jera, du sollst meine Priesterin sein."
Ich mußte drei mal ansetzen, um meine Antwort herauszubringen:
"Nein. Um nichts in der Welt würde ich mich an so etwas beteiligen."
Minutenlang herrschte Totenstille. Alle starrten mich fassungslos an. Ich stand hochaufgerichtet dort und wartete. Alles in mir sagte nein zu Menschenopfern. Ich hätte mich damit abfinden können, selber geopfert zu werden und wäre niemanden dafür auch nur böse gewesen, aber selbst einen Menschen opfern, war für mich unvorstellbar. Ich hätte mir das nie verzeihen können.
"Jera, komm mit." befahl die Hohepriesterin, führte mich in eine der nahegelegenen Höhlen und schloß mich dort ein. Ich folgte ihr gehorsam und streckte mich auf dem Strohlager aus, das dort für Frauen vorbereitet war, die auf ihre Einweihung warteten. Ich ging davon aus, daß ich zur Strafe für dieses Sakrileg hingerichtet würde. Doch weitaus schlimmer war für mich, daß ich mich plötzlich nicht mehr den Hexen zugehörig fühlen konnte. Menschen brauchen Freunde so dringend, wie die Luft zum atmen. Von tiefem Schmerz erfüllt lag ich auf dem Rücken und ließ die Zeit an mir vorüberziehen. Die Stille und Dunkelheit der Höhle schenkte mir in wenig Frieden. Unabhängig davon, was die anderen jetzt mit mir tun würden, hatte ich doch das einzige getan, was ich mit meinem Gewissen vereinbaren konnte.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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