Nach einem Jahr wurde ich zur Klosterpforte gerufen. Eine Bäuerin
wolle mich sprechen, sie hätte eine Botschaft für mich. Ich ging
hin und sah die Hohepriesterin. Nun, sie war ja tatsächlich eine
Bäurin. Aber mich brachte es ziemlich aus dem Gleichgewicht, sie
hier am Kloster zu sehen. Ich hätte sie am liebsten angebrüllt,
mich in Ruhe zu lassen.
"Ich weiß, ich habe dir sehr wehgetan. Ich kann dich nicht zwingen,
mich anzuhören. Schick mich fort und ich gehe." sagte sie leise.
Ich zögerte, sah sie prüfend an. Diese Demut war echt, doch
dahiner lag große Dringlichkeit. Ich winkte ihr, mir in meine
Klosterzelle zu folgen.
"Was ist." fragte ich kurz angebunden.
"Deine Lehrerin ist krank. Sie würde dich nicht darum bitten. Aber ich
weiß, sie vermißt dich sehr und wäre glücklich, wenn
du sie ihre letzten Tage pflegen würdest."
"Wieso sagst du letzte Tage?" fragte ich.
"Ihre Seele bereitet sich darauf vor, zu gehen. Ich spüre es."
antwortete die Hohepriesterin.
Ich nickte, schwieg lange.
"Ich werde mich um sie kümmern." antwortete ich schließlich.
Ich hatte wenig im Kloster und so brauchte ich nur ein paar Minuten, um dort meine Angelegenheiten zu ordnen und mich von meinen Freundinnen unter den Nonnen zu verabschieden. Das Kind nahm ich mit.
Zuletzt rief mich die Äbtissin in ihr Zimmer.
"Ich wußte, daß du gehen wirst. Du bist nicht für das
Kloster geschaffen, auch wenn von allen Menschen, die ich kenne, du
diejenige bist, deren Herz am stärksten für den Christus
schlägt. Dein weiteres Leben wird einsam und schwer sein. Deshalb
möchte ich Dir etwas geben, das dich auf deinem weiteren Weg geleiten
kann." sagte sie ruhig und reichte mir ihre Bibel.
Es war eine der neuen gedruckten Bibeln. Sie hatte nur einen Bruchteil so
viel gekostet, wie die alten, handgeschriebenen Bibeln, aber immer noch
war ein dermaßen dickes Buch unbezahlbar für einfache Bauern.
Und es gab nichts, was mein damaliges Leben so geprägt hatte wie eben
die Bibel.
Ich drückte sie an mein Herz und weinte. Ich wußte nicht, wie
ich mich dafür bedanken, was ich sagen sollte.
Plötzlich erschien ein spitzbübisches Lächeln in den Augen
der Äbtissin und sie sagte drei Worte in einer alten, längst
vergessenen Sprache. Ich hob den Blick, starrte sie fassungslos an -
und erwiderte den zweiten Teil der Losung der Hochgeweihten.
"Jesus war einer der Unseren. Er bereitete eine Neue Zeit vor. Nun ist es
an uns, sie zu vollenden." sagte sie.
Ich fragte sie, welches Erlebnis sie dazu bewogen hatte, ihren Hexenclan zu
verlassen, was ihr die Einweihung eingebracht hatte.
"Viel Leid. Sehr viel Leid." sagte sie nur.
"Das ist wohl immer so." sagte ich.
"Das war immer so. Doch in der Neuen Zeit wird es anders sein."
erklärte sie.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ ; Kersti_@gmx.de