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M15.
Ich schwieg und überlegte, was ich tun
könnte. Es gab nur eine Möglichkeit, die
mit meinem Gewissen zu vereinbaren war.
"Ich bleibe." sagte ich fest.
"Nein! Bitte, du mußt dich in Sicherheit
bringen." flehte Kerta.
Manchmal ist sie niedlich. Wenn ich sie
vor einer vergleichbaren Gefahr gewarnt
hätte, wäre sie nie geflohen.
"Kerta ich kann nicht einfach verschwinden und die Frauen
alleinlassen, die ich ausgebildet habe. Ich habe Verantwortung."
erklärte ich ihr.
"Aber sie werden dich foltern und verbrennen!" versuchte sie
mich zu überzeugen.
"Ich weiß. Das werden sie mit meinen
Schülerinnen auch tun, wenn die nicht
fliehen. Ich werde versuchen, sie zu
überzeugen, aber ich glaube nicht, daß
ich Erfolg haben werde."
"Hast du eine ungefähre Vorstellung, wieviel Zeit uns
noch bleibt?" fragte ich ruhig.
"Nein." antwortete sie.
"Wahrscheinlich sind es nur ein paar Tage. Ich werde versuchen die
Frauen bis dahin zur Vernunft zu bringen." entschied ich.
Dann goß ich uns den heißen Kräutertee ein und wir
unterhielten uns noch eine Weile. Sie redete über ihre Novizinnen,
ihr Lieblingsthema. Mitten in der Unterhaltung fragte ich
unvermittelt:
"Kerta, was würdest du an meiner Stelle
tun? Würdest du fliehen?"
"Ich weiß nicht", antwortete Kerta, hielt
inne, sagte dann leise: "Nein, nicht ohne
meine Novizinnen. Wenn ich sie schon
nicht zur Flucht bewegen kann, würde
ich sie wenigstens nicht allein lassen
wollen."
Ich nickte. Sie sah mich gequält an.
"Die Gerichte der Welt mögen Unrecht
sprechen - doch es gibt noch ein höheres
Gesetz." sagte ich leise tröstend.
"Und was bringt dir das?" fragte Kerta empört.
"Es ist das wichtigere Gesetz. Vertrau darauf." antwortete
ich sanft und zuversichtlich.
Kerta brach in Tränen aus. Ich zog sie in meine Arme. Es ist
leichter zu sterben, als alleine zurückzubleiben. Meine Mutter
wird wohl froh sein, daß ich sterbe. Wenigstens sie wird nicht
darunter leiden.
Kerta und ich verließen, nachdem sie mich vor der Inquisition gewarnt hatte, gemeinsam die Hütte. Sie wandte sich dem Wald zu und ich ging auf Schleichwegen zu meinen Schülerinnen, die inzwischen als Mägde arbeiteten oder selber als Bäurinnen einem Hof vorstanden. Ich redete jeder von ihnen mit Engelszungen zu, zu fliehen. Und jede von ihnen fand einen Grund, weshalb sie nicht konnte. Sie konnten sich einfach nicht vorstellen, daß sie jemand bei der Inquisition angezeigt haben könnte. Ich wußte, daß die Warnung ernstzunehmen war. Kerta verbreitet keine üblen Gerüchte. Hätte ich meinen Schülerinnen das richtig klarmachen können, so hätten sie begriffen, daß es zwar schlimm ist, ein Kleinkind alleinlassen zu müssen. Aber selbst für das Kind ist es besser, zu hören, daß die Mutter geflohen und am Leben ist, als wäre sie als Hexe auf dem Scheiterhaufen verbrannt worden. Es tat mir weh, zu sehen, daß ich sie vor ihrem Schicksal nicht retten konnte.
Müde kehrte ich nach Hause zurück, holte meine Bibel hervor und las. Jesus hat in seinem Leben einige sehr vernünftige Dinge gesagt. Vielleicht fand sich dort eine Lösung.
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5,
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