4/2010
Ich suchte und fand auf diese Weise ein paar der Flüchtlinge.
Der erste gehörte einer Schwerstarbeiterlinie an, die normalerweise mit Breitband-Computeranschluß verkauft wurde. Sie war sowohl darauf gezüchtet worden, daß sie die in den Körper eingepflanzten Drähte besser vertrug als normal, als auch auf Körperkraft.
Ich hatte herausgefunden, wo er wohnte und
sprach ihn auf der Straße an, als er von der
Arbeit nach Hause kam. Er warf mir einen
kurzen Blick zu und sagte:
"Du bist doch eins von den Mörderkindern, nicht wahr?"
"Mörderkinder? So nennt ihr uns?" fragte ich
zurück. Den Ausdruck kannte ich noch nicht.
"Na hör mal, jeder weiß, daß ihr jeden Betreuer umbringt, der einen von euch oder euren Freunden tötet."
Mir war nicht bewußt, daß wir diesen Ruf
hatten. Obwohl es natürlich stimmte. Und natürlich hätte es nichts an der Politik von Festrana geändert, wenn eine Zuchtlinie höchst
lukrativ ist, aber ein paar unvorsichtige Ausbilder beseitigt. Und ihre Kunden warnen sie
ganz bestimmt nicht davor, daß sie sich ein
höchst gefährliches Wesen ins Theater holen,
mit dem sie besser behutsam umgehen sollten.
"Komm mit, Junge."
Der Mann brachte mich, ohne zu fragen, was
ich von ihm wollte und warum ich ihn angesprochen hatte, in seine Privatwohnung, teilte
mir mit, daß wir dort nicht abgehört würden
und fragte mich, wer mich geschickt hätte.
Ich machte ihn darauf aufmerksam, daß ich
ein laufendes Aufnahmegerät dabei hatte und
fragte, ob ich die Aufnahme löschen sollte.
Das klang mir zu sehr nach geheimer Verschwörung.
Jetzt hatte ich ihn verblüfft. In völlig anderem Ton fragte er mich, was mich zu ihm geführt
hatte. Ich stellte mich vor. Mein Name war ihm bekannt:
"Das ist also der Junge, der zwei Festrana-Mörder mit einem Messer entwaffnet hat. Alle Achtung."
Soso - da sieht man also, was ihn beeindruckt. Gewalt, Gewalt und noch einmal Gewalt, dachte ich. Und ich fragte mich, ob meine Fähigkeit, mit ein paar Messern ein Blutbad veranstalten zu können, mir nicht zu
selbstverständlich gewesen war.
Ich erklärte ihm, was ich mit dem kommenden
Film und mit dem Forschungsprojekt beabsichtigte. Daraufhin sagte er:
"Ich denke, man sollte die Ärsche unter den
Sklavenhaltern lieber eigenhändig erschießen."
"Da kann ich nicht völlig widersprechen."
Ich erzählte, wie ich als kleines Kind den
Hochseilakrobatiklehrer umgebracht hatte,
weil er meine Freundin Indara ermordet hatte.
Ihm schien die Geschichte zu gefallen, wie ich
vermutet hatte. Mir gefiel sie nicht, weil sie
mich daran erinnerte, daß Mord damals die
einzige Möglichkeit gewesen war, sich zu wehren. Und wenn ich die Wahl habe, ziehe ich
gewaltfreie Methoden vor.
Danach erklärte ich ihm, daß eine Taktik, die aus zwei Armen besteht, letztlich wirkungsvoller ist. Ein terroristischer Arm führt, wenn er sich nur gegen die wirklichen Verbrecher richtet, dazu, daß sich völlig unmoralische Sadisten niemals sicher fühlen können, da die Opfer immer wissen, wer für ihr Leid verantwortlich ist. Ein Arm, der Öffentlichkeitsarbeit betreibt, bewirkt, daß die anständigen Menschen erkennen, wo die Mißstände sind und daß sie dagegen vorgehen. Und er bewirkt, daß die Morde von einigen Menschen als angemessene Hinrichtungen und als Strafe für ein Verbrechen gesehen werden, nicht als sinnlose Gewaltakte.
"Darüber muß ich mich mit meinen Freunden unterhalten. Wenn ich danach noch mit dir
reden will, werde ich dich kontaktieren." sagte er.
Ich nickte.
"Gibt mir bitte die Aufnahmegeräte."
Ich kramte alle heraus, die ich dabei hatte und
zeigte ihm auch die nicht benutzten Speicherbausteine. Wie ich erwartet hatte, benutzte er
danach den in seiner Hand eingebauten Skanner, um zu prüfen, ob ich ihm wirklich alles
gezeigt hatte. Es wäre peinlich gewesen, wenn
er da etwas anderes als die fünf Messer gefunden hätte, die ich am Körper trug.
"Der süße Kleine ist wie immer bewaffnet." kommentierte er seine Entdeckung.
Nacheinander schloß er alles, was ich ihm gegeben hatte, an seinen Körper an und an seinem konzentrierten Gesichtsausdruck konnte ich erkennen, daß er die Daten las. Dann gab er sie mir zurück und sagte, daß er unser Gespräch gelöscht hatte, da er der Meinung sei, daß es meinem Ruf nicht gut täte, wenn bekannt würde, welche Taktik ich vorgeschlagen hatte.
Ich grinste nur.
Und als er mich fragte, ob jemand wußte, wo ich war, antwortete ich wahrheitsgemäß, daß
einige Straßen weiter ein Freund mit einem Lieferwagen wartete, aber daß ich nicht mein
genaues Ziel verraten hatte, da ich nicht gewußt hatte, was ich hier vorfinden würde.
"Es geht das Gerücht um, dieser Filmheini hätte dich mit Hinweis auf den Vertrag gezwungen, die dreijährige Regeneration durchzustehen."
"Das entspricht den Tatsachen." antwortete ich.
"Und - wolltest du ihn umbringen?"
"Ich habe darüber nachgedacht, bin aber zu dem Schluß gekommen, daß es nicht richtig gewesen wäre."
"Warum?"
"Inzwischen ist das Ende der Regeneration zwei Jahre her. Seit ich den Schuß abbekommen hatte, waren das die ersten beiden Jahre, in denen ich nicht ständig Schmerzen gehabt hatte, die mir regelmäßig fast zu viel
wurden. Die drei Jahre der Regeneration waren erheblich schlimmer gewesen, als die Jahre davor. Doch wenn nicht einer der Mörder Festranas irgendwann Erfolg hat, haben mir diese drei richtig üblen Jahre etwa 300 Jahre Schmerzen erspart." erklärte ich und diesmal empfand ich es auch so, wie ich es sagte.
"Stimmt. Ihr werdet ja so unglaublich alt." Seine Stimme klang wehmütig.
Ich nickte nur. Die in seinen Körper eingepflanzten Drähte sind giftig und er würde deshalb nicht älter als vierzig werden.
Quelle: Erinnerung an ein eigenes früheres Leben
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5,
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