315Kersti:

Diesmal erzählt Torajin der Sänger ein Märchen. Er ist ein junger, hochgewachsener Mann, immer zu Scherzen aufgelegt. Jetzt liegt ein nachdenklicher, beinahe trauriger Ausdruck auf seinem Gesicht:

Der stumme Sänger

Es war einmal ein kleiner Junge, der hatte mitansehen müssen, wie Räuber sein Heimatdorf zerstörten und die Menschen dort folterten und ermordeten. Seine eigenen Eltern hatten sie vor seinen Augen getötet.

Da wurde der Junge stumm und floh. Er lebte in den Wäldern, aß Wildpflanzen und trank Bachwasser. Vor Menschen lief er davon. Frühling, Sommer und Herbst waren bald vorbei. Es wurde kalt. Die eßbaren Pflanzen wurden von Schnee verborgen und der Junge fror nachts so erbärmlich, daß er alle paar Minuten aufwachte und unruhig hin und herlief, bis er seine kältestarren Hände und Füße wieder spüren konnte. Er weinte Tag und Nacht vor Erschöpfung, Kälte und Hunger. Er erinnerte sich an warme Häuser, doch traute er sich nicht hin, denn dort könnten Mörder wohnen. Wochen vergingen.

Eines Tages hörte er wundersame Töne. Sie erinnerten ihn an Lachen, Wärme und Liebe. Er glaubte, daß kein böser Mensch so schöne Musik machen könnte. Als er näher schlich, wurden die Klänge immer lauter und klarer. Schließlich konnte er die Musikantin sehen: eine junge, braunhaarige in eine Wolldecke gehüllte Frau saß auf einer Lichtung und spielte Gitarre. Er lauschte, ging noch näher heran. Die Musikantin holte ihre alte, kleine Blockflöte hervor, spielte darauf. Versunken hörte er zu. Sie legte die Flöte hinter sich und spielte wieder Gitarre. Gerne hätte der Junge die Flöte gehabt, doch er traute sich nicht näher heran. Als die Musikantin steif wurde vor Kälte, legte sie ein Stück Brot auf den Boden, steckte die Flöte ein und ging. Kaum hatte sie die Lichtung verlassen, stürzte sich der Junge auf das Brot und stopfte es in den Mund. Dann folgte er den sich entfernenden Gitarrenklängen in die Felder und sah die Frau in einer heugefüllten Feldscheune verschwinden. Sie spielte weiter. Der Junge lauschte heimlich an der Tür. Dort lag die Flöte. Verstohlen steckte er sie ein. Dann schlich er hinein und rollte sich im warmen Heu zusammen. Zum ersten mal seit Wochen wurde er richtig warm und schlief tief und fest, bis er mittags von Musik geweckt wurde. Als der Junge die Augen öffnete, stand neben ihm warme Suppe. Er aß sich satt. Dann packte die Musikantin ihre Sachen und ging weiter. Der Junge folgte ihr mit einigem Abstand, immer bereit, fortzulaufen.

Jahrelang zog die Musikantin von Ort zu Ort. Der Junge folgte ihr als kleiner, stummer Schatten. Sie merkte bald, daß er nicht sprechen konnte und ließ ihn mit ihren Fragen in Frieden. Sie versorgte das Kind mit allem was es brauchte und erfüllte ihm seinen tiefsten Herzenswunsch: Sie lehrte ihn das Flötenspiel. Das Kind spielte seltsame, traurige Melodien, die ihr eine Gänsehaut verursachten. Schließlich fand die Musikantin einen Gefährten, kehrte heim und trat ihr Erbe an. Gerne hätte sie den Jungen bei sich behalten. Doch der wollte fort. So schenkte die Musikantin ihm ihre Gitarre und ließ ihn ziehen.

Der Junge zog durch das Land und lebte von seiner Musik. Er mußte sich durch Gesten verständigen. Wenn er sprechen wollte, war ihm die Kehle wie zugeschnürt. Nur wenn er für sich allein Gitarre spielte, summte er leise dazu. Später sang er laut und erschuf Lieder über Grausamkeit, Leid, Angst und die Freundlichkeit einer Musikantin. Jahre später wagte er, diese Lieder auf Marktplätzen zu singen. Sprechen konnte er noch länger nicht. Doch auch das hat er schließlich gelernt.

Wenn er nicht gestorben ist, kann man ihn vielleicht jetzt gerade seine Geschichte erzählen hören."

Jora sieht Torajin ernst und nachdenklich an, als er seine Geschichte beendet hat und fragt nach kurzem Zögern:
"Ich habe dich immer nur lachend und scherzend erlebt, Torajin. Ich hätte nie geglaubt, daß du eine so traurige Geschichte mögen könntest. Man nennt dich den Sänger. Kann es sein, daß du der Junge aus dieser Geschichte bist?"
Auch Torajin zögert eine Weile, dann sagte er ruhig:
"Der war ich, aber das ist lange her. Ich habe lange gebraucht, um mein Lachen und meine Sprache wiederzufinden. Jetzt genieße ich, daß ich es kann."

Plötzlich ändert Torajin sein Haltung, erzählt einen Witz und lacht. Die anderen lachen mit und beginnen dann, die Geschichte zu kritisieren. Sie scheinen zu jedem einzelnen Wort eine Möglichkeit zu wissen, wie er es hätte besser erzählen können.
 
Kersti / 337: Du sagst, daß du es nicht gut fändest, daß alle Torajins Geschichte so schlecht machen.
Kersti / 339: Du hörst aufmerksam zu.


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