vor 26.2.01
In meinem üblichen Schneckentempo bewegte ich mich mit den Studenten
zur Bibliothek. Sie hätten mich auch in einem der Rollstuhl dorthin
geschoben. Aber dazu war ich zu stolz. Es herrschte bedrückte Stille.
Erst als ich dort angekommen war, hatte ich die Konzentration übrig, um
mit ihnen zu reden:
"Was ist mit euch los? Ich dachte ich komme in die Versuchslabore und
nicht ihr." spöttelte ich.
Ich wollte den letzten Abend nicht in trübsinnigem Schweigen
verbringen. Und tatsächlich gelang es mir, die Stimmung aufzulockern,
so daß wir die meiste Zeit wie in all den Wochen zuvor zusammen
diskutierten und lachten.
Auch Torion war da und wurde selbstverständlich als einer von uns
akzeptiert. Irgendwann - es war schon spät - sah er mich an und dachte
mit offenem Energiefeld:
*Karion ist alt geworden.*
*Nein. Nicht alt. Ich sehe nur so aus.* widersprach ich.
*Du bist dreißig, oder?* fragte er.
*Ja. Und das ist selbst für einen Menschen noch jung.* antwortete
ich.
Ich beobachtete in seinem Geist, wie er seinen Blick auf mir ruhen
ließ, wie er mein inzwischen weiß gewordenes Haar, die
schroffen Falten in meiner Haut betrachtete und darüber nachdachte,
wie sehr ich gelitten haben mußte, um innerhalb eines halben Jahres so
auszusehen.
Ich war beinahe glücklich, an jenem Abend.
Quelle: Erinnerung an ein eigenes früheres Leben
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5,
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