"Vor fast fünfzig Jahren lag mein Herr, der mir
alles beigebracht hat und ohne den es unsere
Gemeinschaft heute hier nicht gäbe, weil wir
alle - außer Velia - heute noch Untote wären
- genau hier in diesem Bett im Sterben.
Ich kannte ihn schon lange, doch hatte ich nie verstanden, warum es
ihm so viel bedeutet hatte, uns das Geschenk des Todes zu geben, statt
uns zu hassen, wie richtige Menschen das tun. Doch ich stellte
ihm eine andere Frage:
"Sag mal, warum hast du mich immer gefoltert und am Ende meines
Lebens befohlen, daß ich mir selbst die Haut abziehen und
mich selbst ausnehmen soll, wie ein geschlachtetes Tier?"
"Ich habe dich beneidet. Ich war selber ein
Untoter und niemand hat mir geholfen, als
ich die Methode erarbeitet habe, die mir
das Sterben ermöglichte."
Da habe ich vieles verstanden, was ich vorher nie verstehen konnte und
ich mußte ihm versprechen, jedem Untoten zu helfen, der zu mir
kam, damit niemand mehr so alleine ist, wie er es damals war. Als
letzte Pflicht muß ich meinen Nachfolger ernennen, damit auch
in Zukunft jemand dieses Haus hütet. Es muß jemand sein,
der jung ist, damit er die Verantwortung lange tragen kann und
fähig, damit er auch wirklich jedem helfen kann. Ich
dachte an Velia - sie ist erst ein Jahr bei uns - aber sie hat sich
fast vollständig selbst befreit, bevor sie zu uns kam und was
sie von unseren Methoden noch nicht kennt, kann sie von euch anderen
lernen. Und - das ist das wichtigste - sie hat ein gutes Herz."
sagte ich.
Die meisten der ehemaligen Untoten waren, als sie zu uns kamen, eher unangenehme Zeitgenossen gewesen. Die Erfahrung, immer wieder ohne Grund mißbraucht, gefoltert und ermordet zu werden, hatte viele von ihnen verbittert. Nur Velia und mich nicht. So ganz kann ich mir nicht erklären, warum wir beiden so anders auf dieses Problem reagiert hatten als die anderen - aber ganz unzweifelhaft war das der Grund, warum wir beiden die einzigen waren, die schon als Untote das große Glück hatten, einige wenige Freunde zu finden. Alle Anderen hatten in dieser Gemeinschaft der ehemaligen Untoten zum ersten mal erlebt, daß jemand sie wirklich liebte.
"Ich?" Velia hatte offensichtlich nicht damit gerechnet.
"Ja du." antwortete ich "Oder will mir jemand
widersprechen?"
Alle lachten - sie mit ihrer freundlichen Art war von uns allen die
Beliebteste und daran, daß sie fähig war, bestand nicht der
geringste Zweifel. Velia war die beste, die, auf die ich so lange
gewartet hatte.
Ich konnte beruhigt meine Augen schließen und den verbrauchten Körper verlassen.
Quelle: Erinnerung an ein eigenes früheres Leben
Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, Internetseite: https://www.kersti.de/ E-Mail an Kersti
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