erste Version: 6/2006
letzte Bearbeitung: 6/2016

VA254.

ADHS: Du kannst ja, wenn Du willst!

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Übergeordneter Artikel:
VA238. Kersti: Ist ADHS eine Krankheit?
Dieser Text:
VA254.1 Kersti: Kann der ADHSler wenn er will?
VA254.1 Kersti: Du kannst ja, wenn Du willst!
VA254.2 Kersti: Sind ADHS-Kinder schlechter darin, eigene Gefühlszustände zu regulieren als andere Kinder?
VA254.2 Kersti: Ich habe ja auch viel mehr zu regulieren ...
VA254.3 Kersti: Haben Kinder mit ADHS Schwierigkeiten in der Handlungsplanung?
VA254.3 Kersti: Für andere kann ich gute Pläne machen
VA254.4 Kersti: ADHS und Schule
VA254. Kersti: Quellen

 
Inhalt

1. Kann der ADHSler wenn er will?

Wenn ich über ADHS und Motivation und Handlungssteuerung lese, ärgere ich mich im allgemeinen richtig, weil mich das an einem immer wieder gehörten Vorwurf erinnert:

Du kannst ja, wenn Du willst!

In meiner Kindheit bekam ich (Kersti) oft etwas gesagt, das einerseits wahr war - andererseits aber auch ein schrecklich ungerechter Vorwurf:
"Du kannst ja, wenn Du willst!"

Wahr war es, denn wenn ich etwas von ganzem Herzen will, kann ich eine ganze Menge, was ich sonst nicht kann. Ein ungerechter Vorwurf ist es aber deshalb, weil ich viele Arbeiten eben tatsächlich nicht mehr zuendebringen kann, wenn ich drei gute Gründe habe es zu wollen und vier, es nicht zu wollen.

Während ich arbeite irren meine Gedanken eben oft ab, und zwar so sehr, daß ich während ich eine Routineaufgabe erledige völlig vergesse, daß ich gerade eine Stift in der Hand habe, um eine Tabelle auszufüllen und stattdessen sehe, daß die Blumen auf meiner Fensterbank wieder einmal zu lange nicht gegossen worden sind. Ich stehe also auf, nehme die Blumengießkanne und gieße die Blumen. Danach fällt mir nicht wieder ein, daß ich bei den Hausaufgaben war sondern ich kümmere mich um den Dackel, der mir sehr deutlich mitteilt, daß er findet, daß er heute noch nicht genug Spaziergänge hatte. Wenn ich dann wieder an die Tabelle denke, suche ich verzweifelt den Stift, der wahrscheinlich da liegt, wo vorher die Blumengießkanne gestanden hat.

Es gibt tausenderlei Arbeiten, die einen von dem, was man eigentlich tun wollte, ablenken könnten. Bei diesen Arbeiten irren meine Gedanken dann natürlich auch oft ab - aber das bringt mir für die ursprüngliche Arbeit nur dann etwas, wenn diese genug Stellen hat, über die man nachknobeln kann, bis man eine Lösung hat, Stellen, zu denen meine Gedanken bei ihren Wanderungen abirren können, so daß sie mich wieder an die Arbeit schicken.

Eine langweilige Routinearbeit kriege ich erledigt, wenn ich, während ich meine Gedanken wandern lasse oder andere Arbeiten erledige, regelmäßig merke, daß ich sie irgendwofür brauche. Wenn ich sie nur brauche, weil der Lehrer sie am nächsten Morgen kontrolliert, wird sie nicht fertig, weil ich nach der ersten Unterbrechung erst wieder am nächsten Morgen daran denke, daß ich das doch tun wollte. Und dann ist es zu spät sie noch schnell zu erledigen.

Ich finde es ungerecht, daß andere eine solche Routinearbeit auch erledigen können, wenn sie eigentlich nicht wollen!

Kurz zusammengefaßt: Der Lehrer meint mit dem Satz "Du kannst ja wenn du willst!" daß der ADHSler können würde, wenn er sich bemühen würde. Der ADHSler weiß, daß er kann, wenn er hochmotiviert ist und alles richtig Spaß macht, er weiß, daß dann einerseits nicht das Gefühl von Anstrengung aufkommt und er andererseits gute Ergebnisse abliefert.
VA265.3 Kersti: Hyperfocussieren: Mein Heilpraktikerschein
Wenn der ADHSler sich richtig angestrengt hat, um etwas fertig zu bekommen, dann wird er dagegen wegen Nachlässigkeit getadelt.
VA274. Kersti: Beispielgeschichte, Kersti: Routinearbeiten sind nicht langweilig sondern furchtbar schwierig und frustrierend
Der Durchschnittsschüler kann brauchbare Ergebnisse abliefern, wenn er sich bemüht. Der ADHSler kann nur dann gute Ergebnisse abliefern wenn er hochmotiviert ist und den Zustand des hochmotiviert seins kann man nicht auf Befehl ständig haben. Er wäre auch gefährlich, denn wenn man es tatsächlich schafft, über einen langen Zeitraum ständig hochmotiviert zu sein, führt das dazu, daß man Raubbau mit seinen Kräften treibt. So etwas führt letztlich zum Burnout-Syndrom.

 
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2. Sind ADHS-Kinder schlechter darin, eigene Gefühlszustände zu regulieren als andere Kinder?

ADS-Kinder neigen zu deutlich überschießenden Gefühlsreaktionen, was die Abspeicherung von Wissen auf Interessengebieten erheblich verbessert, bei Gebieten des Desinteresses aber verschlechtert (Buch: B131.1).

Diese Aussage ist richtig und wird durch die Berichte Erwachsener mit ADHS uneingeschränkt bestätigt.
VA265.3 Kersti: Haben ADHSler Wutanfälle weil sie unbeherrscht sind?
Die folgende Aussage kann ich jedoch nicht bestätigen:
Die Selbstregulation der Gefühlszustände von ADHS-Kindern ist oft schlecht. Negative Gedankensowie der negative Gefühlszustand beim ungeliebten Schreiben von normalem Lernstoff kann zu der Einstellung führen: "Ich fang gar nicht erst an" (Buch: B131.1).

Ich habe ja auch viel mehr zu regulieren ...

Zwar bin ich durchaus oft beim "Ich fang gar nicht erst an!" gelandet - aber es liegt nicht daran, daß ich unfähig wäre, meine Gefühle zu regulieren. Im Gegenteil: Ich beherrsche viel mehr Techniken der Gefühlsregulation als der Durchschnittsmensch: Von jeder dieser Regulationsmöglichkeiten gibt es viele Varianten, die ich bei Bedarf verwende. Als Kind war ich darin nicht ganz so gut wie ich es heute bin - aber ich war immer noch besser als Gleichaltrige.

Nur leider gibt es da bei mir auch viel mehr zu regulieren. Und meine Gefühle reagieren nicht nur auf meine eigenen Regulationsversuche sofort und genau wie ich es will, so lange der Körper noch fähig ist ein Gefühl zu produzieren, sie reagieren genauso heftig auf jeden äußeren Anlaß.

Und da habe ich halt eine ganze Menge zu tun wenn ich das wieder auf das von mir gewünschte Gefühl einregulieren will, wenn ich von außen ständig gestört werde.

Besonders geärgert hat es mich, wenn ich mich mühsam durch diverse Tricks in einen Zustand gebracht hatte, in dem ich mich konzentrieren konnte und mich dann ein Lehrer anbrüllte, weil ich irgendeinen Flüchtigkeitsfehler gemacht hatte. Wenn er dann meine Reaktion darauf - ich war normalerweise völlig unfähig zu einer sinnvollen Antwort und habe selbstverständlich noch mehr Fehler gemacht - zum Anlaß für weiteres schimpfen genommen hat, hatte ich keine Chance, wieder in einen Zustand zu kommen, in dem ich arbeiten konnte. Genau die Lehrer, die sich so verhalten, waren normalerweise was dieses Thema angeht völlig kritikungähig. Einmal meinte einer der Grundschullehrer zu einer meiner Erklärungen, warum ich bestimmte Aufgaben anders angehe als andere, er hätte seit Jahrzehnten Schüler unterrichtet, er wüßte besser, wie Schüler lernen, als ich. Da mir durchaus bewußt war, daß der Durchschnittsschüler völlig anders veranlagt ist als ich, dachte ich mir nur: "Die hießen aber nicht Kersti!" und machte weiter wie bisher.

Nun stellt sich die Frage, ob andere ADHS-Kinder auch mehr Techniken der Gefühlsregulation beherrschen als Gleichaltrige, oder ob ich diesen Vorsprung hatte, weil ich intelligenter bin, als das durchschnittliche Kind mit ADHS.

Meine Erfahrungen mit Diskussionen über Gefühle legen nahe, daß wahrscheinlich die meisten Menschen ihre Gefühle nicht getrennt von ihren Gedanken wahrnehmen können. Etwas, das jedes Kind mit ADHS zwangsläufig auseinanderzudividieren lernt: die Überschießenden Gefühlsreaktionen der ADHSler führen dazu, daß man beinahe zwangsläufig merkt, daß ein Gedanke nicht immer dasselbe Gefühl hervorruft.

Außerdem sind Kinder mit ADHS-Veranlagung auf diese Gefühlsregulation angewiesen. Kinder ohne diese Veranlagung kommen auch ohne zurecht.

Aus folgenden Gründen muß man davon ausgehen, daß Kinder mit ADHS Gefühlsregulationstechniken mehr üben und sie auch leichter lernen können:

Kurz zusammengefaßt: Kinder mit ADHS sind nicht schlechter sondern besser darin, ihre Gefühle zu regulieren, als Gleichaltrige ohne ADHS! Allerdings gibt es ein paar gute Gründe, warum man das von außen nicht sehen kann.

Das Gehirn von Menschen mit ADHS filtert wesentlich weniger Daten aus als das von normalen Menschen.

Die Häufigkeit ADHS liegt bei etwa 5-10% der Bevölkerung. Grundsätzlich ist ADHS so häufig oder selten, daß die Vorteile im Überlebenskampf genauso groß oder klein sind wie die Nachteile. Das wird dadurch sichergestellt, daß bis etwa 1950 die Nahrung nicht für alle Menschen gereicht hat und man nur so viele Kinder großziehen konnte, wie man mit seinen Fähigkeiten ernähren konnte.

Da bei ADHS ein geringerer Anteil der Umweltreize und unwesentlichen Gedanken ausgefiltert werden, entsteht eine erhöhte Kreativität und mehr Sensibilität bei allen Sinnen.

 
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3. Haben Kinder mit ADHS Schwierigkeiten in der Handlungsplanung?

In Büchern über ADHS findet man immer wieder die Aussage, daß Kinder mit ADHS Schwierigkeiten in der Handlungsplanung hätten. Aber - sind diese Kinder wirklich schlechte Planer?

Für andere kann ich gute Pläne machen

Ich unterhielt mich mit einer Freundin, die auch ADHS hat und mit ihrer Arbeit zum x-ten Male nicht weiterkam. Da sagte sie:
"Für andere kann ich sehr gut Pläne machen, von denen dann alle begeistert sind. Aber mir gelingt es nie, mich an meine eigenen Pläne zu halten, egal wie sorgfältig ich sie mache."
Ich nickte. Das Problem kannte ich so gut, daß ich schließlich diese Art von Planung aufgegeben hatte und durch völlig andere Tricks dafür gesorgt habe, daß alles, was ich tun will, erledigt wird.

Durch die heftigen Gefühlsschwankungen und die Reizoffenheit des ADHSlers kann er die Phasen in denen er arbeitsfähig ist, nicht ausreichend genau vorraussagen, um darauf eine sinnvolle Planung aufzubauen. Außerdem sind die inneren und äußeren Ablenkungen für ihn so übermächtig, daß man meist die Arbeiten doch in einer anderen Reihenfolge erledigt als ursprünglich geplant. Und das unabhängig davon, wie sehr man sich bemüht, sich an den Plan zu halten.

Daß viele Kinder mit ADHS ihre Handlungen kaum planen können, ist also nicht darauf zurückzuführen, daß sie unfähig wären zu planen - sondern darauf, daß sie merken, daß es ihnen sowieso nicht gelingt, sich an ihre Pläne zu halten.

Lösen läßt sich dieses Problem nur, indem man spezielle auf ADHS abgestellte Planungstechniken verwendet.

 
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4. ADHS und Schule

Textstücke aus Buch: B131.1, Kapitel 2, Abschnitt 5; S. 12ff und Kommentare dazu:

Kersti


Ein Text von Kersti Nebelsiek, Alte Wilhelmshäuser Str. 5, 34376 Immenhausen - Holzhausen, Tel.: 05673/1615, https://www.kersti.de/, Kersti_@gmx.de
Da ich es leider nie schaffe, alle Mails zu beantworten, schon mal im voraus vielen Dank für all die netten Mails, die ich von Lesern immer bekomme.